IV.5. Wie wollen wir die Europäische Union grundlegend umgestalten? Demokratie, Sozialstaatlichkeit, Ökologie und Frieden
Die Europäische Union beeinflusst das Leben der Bürgerinnen und Bürger in allen Mitgliedsstaaten unmittelbar und in wachsendem Umfang. Entscheidungen des Europäischen Parlaments, des von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten gebildeten Europäischen Rates, des Rates, der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofes bestimmen die Lebensbedingungen, den Alltag der Menschen in der Bundesrepublik substanziell. Die auf EU-Ebene getroffenen Entscheidungen sind von zentraler Bedeutung für die Sicherung des Friedens, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung und die Lösung der ökologischen Herausforderungen auf dem Kontinent und darüber hinaus. Linke Politik in Deutschland muss angesichts dessen heute mehr denn je die europäische Dimension mitdenken und für die Gestaltung der europäischen Politik eigene Vorschläge unterbreiten. Die Europäische Union ist für DIE LINKE eine unverzichtbare politische Handlungsebene.
Gemeinsam mit anderen linken Parteien stehen wir für einen grundlegenden Politikwechsel in der Europäischen Union. Wir wollen eine andere, eine bessere EU. Die Europäische Union muss zu einer tatsächlich demokratischen, sozialen, ökologischen und friedlichen Union werden.
Die Vertragsgrundlagen der Europäischen Union sind dafür nicht geeignet. Wir haben deshalb den Vertrag von Lissabon abgelehnt. Unsere Kritik richtete und richtet sich weiterhin vor allem gegen die in diesem Vertragstext enthaltenen Aussagen zur Militarisierung der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik, gegen die Grundausrichtung der EU an den Maßstäben neoliberaler Politik, gegen den Verzicht auf eine Sozialstaatsklausel, gegen die angestrebte Art der verstärkten Zusammenarbeit der Polizei- und Sicherheitsdienste sowie gegen das weiter bestehende Demokratiedefizit in der EU und ihren Institutionen.
Die Eurokrise hat einen weiteren Beleg dafür erbracht, dass die EU-Verträge nicht für ein demokratisches, soziales, ökologisches und friedliches Europa taugen, sondern ganz im Gegenteil zur Verschärfung der Krise beitragen.
Die Europäische Union braucht einen Neustart mit einer vollständigen Revision jener primärrechtlichen Grundelemente der EU, die militaristisch, undemokratisch und neoliberal sind. Wir setzen uns deshalb weiter für eine Verfassung ein, die von den Bürgerinnen und Bürgern mitgestaltet wird und über die sie zeitgleich in allen EU-Mitgliedstaaten in einem Referendum abstimmen können.
Wir wollen nicht weniger als einen grundlegenden Politikwechsel in der Europäischen Union, der die europäische Integration im Interesse der großen Mehrheit der Menschen auf ein neues Fundament stellt.
Wir wollen eine Europäische Union, die Demokratie und nationalstaatliche Souveränität nicht den Finanzmärkten opfert. Wir weisen alle Angriffe auf die Demokratie in Europa, etwa durch die Etablierung von Durchgriffsrechten auf nationalstaatliche Haushalte, zurück.
Wir wollen eine friedliche Europäische Union, die im Sinne der Charta der Vereinten Nationen Krieg ächtet, die strukturell nicht angriffsfähig und frei von Massenvernichtungswaffen ist, die sowohl auf den Ausbau militärischer Stärke als auch auf eine weltweite militärische Einsatzfähigkeit und weltweit auf militärische Einsätze verzichtet. Wir setzen auf Abrüstung, zivile Kooperation und die Entwicklung partnerschaftlicher Beziehungen in Europa und weltweit.
Wir wollen eine Europäische Union ohne Ausgrenzung und Armut, eine EU, in der gut entlohnte und sozial abgesicherte Arbeit und ein Leben in Würde für alle gesichert sind. Sozialstaatlichkeit muss zu den Werten und Zielen der EU gehören und höchste Priorität bei der Umsetzung aller EU-Politiken haben. DIE LINKE tritt für die Verankerung einer sozialen Fortschrittsklausel im EU-Primärrecht ein. So wie in der EU der Wettbewerb kontrolliert wird, müssen auch die Einhaltung von sozialen Vorschriften EU-weit überprüft und Verstöße dagegen geahndet werden. Um Steuerdumping zu verhindern, fordert DIE LINKE neben einer Vereinheitlichung der Bemessungsgrundlage für Unternehmenssteuern die Festlegung eines EU-weiten Mindeststeuersatzes für Unternehmensgewinne in angemessener Höhe.
Wir wollen eine Europäische Union, deren Rechtsgrundlagen wirtschaftspolitisch neutral gestaltet sind und die gegenüber einer gemischtwirtschaftlichen Ordnung mit einem bedeutenden öffentlichen Sektor sowie künftigen Gesellschaftsentwicklungen offen sind. Die Wirtschaftspolitik der EU soll sozialen Fortschritt und ökologischen Strukturwandel befördern. Notwendig sind dafür mehr öffentliche Investitionen und eine Stärkung der Binnenwirtschaft. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt muss durch einen Pakt für nachhaltige Entwicklung, Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und Umweltschutz ersetzt werden, der auch Maßnahmen zur außenwirtschaftlichen Stabilität einschließt. Die EU braucht eine koordinierte und demokratisch kontrollierte Wirtschaftspolitik, die einer Unterbietungskonkurrenz durch die Verschlechterung von Löhnen, Arbeitsbedingungen, sozialen Leistungen und Umweltstandards entgegen wirkt. Die Europäische Zentralbank muss demokratisch kontrolliert und ihr Wirken neben Preisstabilität auch auf Beschäftigung und nachhaltige Entwicklung ausgerichtet werden.
Wir wollen eine Gemeinsame Europäische Agrarpolitik, die konsequent sozial und ökologisch ausgerichtet ist und stärker die Belange der Entwicklungsländer berücksichtigt. Unternehmen der agrarischen Primärproduktion müssen unabhängig von Betriebsgröße und Bewirtschaftungsform für soziale und ökologische Leistungen unterstützt werden, um den Einfluss landwirtschaftsfremden Kapitals zurückzudrängen.
Wir wollen eine Europäische Union, die sich weltweit dafür einsetzt, dass die Finanzmärkte einer strikten Kontrolle unterworfen werden, damit sie wieder dem Allgemeininteresse und nicht länger der Spekulation dienen. Kapitalverkehrskontrollen müssen auf europäischer Ebene ermöglicht werden. Die EU braucht eine öffentliche Institution, die Staaten Kredite ohne Umweg über private Geschäftsbanken gewährt.
Wir wollen eine Europäische Union mit einem starken Europäischen Parlament und transparenten Entscheidungsprozessen in allen europäischen Institutionen und mehr unmittelbarer Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. In der europäischen Politik müssen die Menschen- und Grundrechte, die zu den Verfassungstraditionen in Europa gehören, Vorrang vor den Grundfreiheiten des Binnenmarktes bekommen.
Wir wollen eine Europäische Union, in der Frauen und Männer wirklich gleichberechtigt sind und die Diskriminierung von Menschen wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität ausgeschlossen ist. Wir wollen, dass Frauen endlich die gleichen Möglichkeiten in Beruf und Gesellschaft haben wie Männer. Dies erfordert gesetzliche Maßnahmen, beispielsweise, um Kinderbetreuung zu sichern und Lohndiskriminierung zu bekämpfen.
Wir wollen eine solidarische Erweiterung der Europäischen Union, in der alle Fragen – insbesondere die Förder- und Investitionspolitik – so behandelt werden, dass die Regionen partnerschaftlich kooperieren und die Verbesserung von Arbeits- und Lebensverhältnissen im Vordergrund steht. Im EU-Haushalt müssen durch Umverteilung der Mittel, aber auch durch die Erhöhung der finanziellen Beiträge der Mitgliedstaaten entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Wir wollen eine Europäische Union, in der Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Sicherheit garantiert sind und die Bekämpfung von Kriminalität nicht zu Lasten der Grund- und Menschenrechte geht. Die EU muss sich zum Prinzip der Gewaltenteilung und der Trennung von Polizei, Geheimdiensten und Militär bekennen. Das Grundrecht auf Asyl ist zu garantieren. Deshalb muss die Grenzschutzagentur FRONTEX aufgelöst werden. Neofaschismus, Fremdenhass, Rassismus, religiöser Fundamentalismus, Sexismus und Homophobie müssen europaweit geächtet werden.
Wir wollen eine Europäische Union, die als Teil der einen Welt gleichberechtigte internationale Beziehungen fördert, eine solidarische Weltwirtschaft anstrebt und ihrer Verantwortung zur Lösung der globalen Probleme gerecht wird.
Diese Grundsätze werden wir unserer gesamten politischen Arbeit zugrunde legen.
Die Linke in Europa ist gefordert, den Kampf um die Europäische Union aufzunehmen. Ein anderes Europa, eine EU, die ihr Gestaltungspotenzial im Interesse von Millionen Menschen in aller Welt nutzt, ist möglich – wenn es gelingt, die Politik und Entwicklung der Europäischen Union zu verändern, sie an Frieden und zivilen Konfliktlösungen zu orientieren, an Demokratie, die Überwindung des Patriachats, an sozialer Sicherheit und ökologischer Nachhaltigkeit und an einer Wirtschaft, die den Menschen dient. Dieses andere Europa kann entscheidend dazu beitragen, dass eine andere Welt möglich wird.
DIE LINKE wird dazu beitragen, dass die Kämpfe gegen neoliberale Politik in den Kommunen, Regionen und Mitgliedstaaten zunehmend auch auf der Ebene der EU geführt werden. Wir werden unsere europapolitischen Ansätze in Protesten gegen die Politik der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten ebenso vertreten wie in den Parlamenten aller Ebenen. Wir wollen die Menschen mit überzeugenden konkreten Projekten gewinnen, ihnen Mut machen, sich wieder politisch zu beteiligen. So können wir unser politisches Ziel einer demokratischen, sozialen, ökologischen und friedlichen Neugestaltung der Fundamente der Europäischen Union erreichen. So verhindern wir, dass Neofaschisten und Rassisten in den EU-Mitgliedstaaten Unterstützung für ihre menschenverachtenden Ideologien erhalten.