Geschlechterverhältnisse im Umbruch
In all dieser Zeit haben Frauen für ihre Rechte gekämpft: Suffragetten erstritten das Frauenwahlrecht. Die proletarische Frauenbewegung setzte sich für die Rechte der Arbeiterinnen und die Erhaltung des Friedens ein. Ebenso wie die bürgerliche Frauenbewegung kämpfte sie um die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern. Nach 1968 kämpfte die neue Frauenbewegung für umfassende gesellschaftliche Emanzipation. Im Ergebnis kann die Frauenbewegung als eine der erfolgreichsten sozialen Bewegungen gelten. Frauen haben die Grenzen des angeblichen Frauenortes Haushalt gesprengt, sie haben sich das Recht auf Bildung, auf eine eigenständige berufliche Entwicklung und auf ökonomische Unabhängigkeit von ihren Männern erkämpft. Frauen können ihre Sexualität freier leben und die Familienplanung unabhängiger gestalten. Mädchen von heute haben eine viel bessere Bildung als ihre Groß- und Urgroßmütter, sie können studieren, Karriere machen, "Männerberufe" erlernen.
Mittlerweile ist die Mehrheit der Frauen erwerbstätig, doch ein großer Teil von ihnen hat lediglich eine Teilzeitstelle, die nicht ihre Existenz sichert und die sie häufig unfreiwillig akzeptieren müssen. In Deutschland verdienen Frauen über 20% weniger als Männer. Sie tragen die Doppelbelastung von Beruf und Familie fast alleine. Wenn sie Erfolg haben wollen, müssen sie sich einer männlich geprägten Welt anpassen. In Führungspositionen von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik sind Frauen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert. Steuer- und Sozialrecht sind noch immer auf die traditionelle Alleinernährerfamilie zugeschnitten. Das Patriarchat prägt Sprache, Kultur, Körperlichkeit und Politik. Noch immer werden Frauen und Mädchen, insbesondere mit Behinderungen, Opfer von Vergewaltigung und häuslicher Gewalt. Frauen mit Behinderungen sind nach wie vor mehrfach diskriminiert.
Die traditionelle bürgerliche Kleinfamilie mit dem berufstätigen Ehemann und der abhängigen Hausfrau verliert an Bedeutung und wird zunehmend in Frage gestellt, da die Herausbildung neuer Produktionsweisen neue flexible Lebensweisen der Menschen mit sich bringt. Der alte Geschlechtervertrag des fordistischen Kapitalismus zwischen männlichem Ernährer und Hausfrau ist aufgekündigt. Das hat Frauen viele neue Freiheiten und häufig ökonomische Unabhängigkeit von ihren Männern beschert. Doch die neoliberale Deregulierung belastet Frauen mit den Anforderungen nach Flexibilität, der Unfreiheit durch prekäre und unstete Arbeitsbedingungen, Doppel- und Überbelastung. Während in den Industrieländern immer mehr Frauen erwerbstätig sind, geht der Anteil der Haus- und Familienarbeit, den Männer übernehmen, weit hinter den der Frauen zurück. Häufig werden Frauen mit schlechten Berufschancen oder Migrantinnen zu schlechten Löhnen und prekären Bedingungen für solche Arbeiten beschäftigt. Dies führt zu neuen Ungleichheiten unter Frauen. Von wirklicher Emanzipation sind wir weit entfernt.
In dieser Lage reichen alle Forderungen nach Gleichstellung, nach alternativen Familienmodellen, nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht aus. Mehrfachbelastung darf nicht individualisiert werden. Die Schwierigkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hat gesellschaftliche und ökonomische Ursachen. Familie ist da, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, egal, ob als Lebensgemeinschaft, als Ehepaar, als Mehrgenerationenhaushalt oder in anderen Formen der Gemeinschaft. Familie ist da, wo Menschen, egal welcher sexuellen Orientierung, füreinander da sind.