Gregor Gysi im Bundestag zu "30 Jahre Mauerfall"

Es hat in der DDR zwar sehr wohl staatliches Unrecht gegeben, aber der Begriff „Unrechtsstaat“ ist in den 1960er-Jahren vom damaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer für das nationalsozialistische Deutschland geprägt worden und kann nicht auf die DDR übertragen werden. Gysi mahnte, die Lebensleistung der Menschen in der DDR und in den vergangenen 30 Jahren in Ostdeutschland muss endlich angemessen gewürdigt werden. Dazu gehört auch die Anpassung der Löhne im Osten an das Westniveau.

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Sehr geehrter Herr Präsident!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Morgen feiern wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Dieser 9. November 1989 ist für viele ein Tag der Freude, des Gedenkens, des Nachdenkens und der Besinnung. So zufällig und irrtümlich wie er zustande kam, so folgerichtig war es, dass der Selbstbefreiungsdrang der Ostdeutschen zum Fall der Mauer führte.

Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Das Reisen in viele Länder blieb den meisten Menschen verwehrt. Es gab erhebliche Einschränkungen in der Freiheit, der Demokratie, bei der Versorgung mit Waren und Dienstleistungen. Es gab auch staatliches Unrecht. Die Mauer und die tödliche Praxis der Grenzsicherung waren sein gröbster Ausdruck, der auch nicht dadurch zu rechtfertigen war, dass die Mauer die Trennlinie der Systeme markierte und von den Großmächten im Kalten Krieg als gegeben akzeptiert wurde.

Alle Toten dort sind nicht hinnehmbar.

Die Reisefreiheit war deshalb neben der Meinungsfreiheit, der Ablehnung von Zensur und Bevormundung eine zentrale Forderung der Demonstrantinnen und Demonstranten von Plauen über Berlin und Leipzig bis zum 4. November in Berlin. Man muss noch einmal in die Augen der Menschen sehen, die am Abend des 9. November vor 30 Jahren frei und ungehindert aus Ostberlin in den Westteil der Stadt strömten. Man muss sich ihre glückliche Fassungslosigkeit über die friedliche Überwindung der Mauer vor Augen rufen, um die historische Dimension der Leistungen vieler Ostdeutscher vor 30 Jahren zu erkennen.

Diese Leistungen müssen ebenso wie die Leistungen der Ostdeutschen in den Jahrzehnten zuvor und in den Jahrzehnten danach endlich angemessen gewürdigt werden.

Es ist auch deshalb höchste Zeit, gleiche Löhne für gleiche Arbeitszeit und gleiche Renten für die gleiche Lebensleistung in Ost und West zu zahlen. Außerdem muss es endlich gemäß Artikel 36 des Grundgesetzes so viele Ostdeutsche in Führungspositionen der Bundesbehörden geben, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Der Bevölkerungsanteil liegt bei 17 Prozent, der Anteil an den Führungskräften nur bei 1,7 Prozent.

Der Grundstein für die Ereignisse vor 30 Jahren, die später dann zur deutschen Einheit führten, wurde mit den von Gorbatschow eingeleiteten Entwicklungen von Perestroika und Glasnost gelegt. Es ist aber auch an die Rolle von Solidarnosc in Polen, an die Flucht in bundesdeutsche Botschaften und an die Grenzöffnung in Ungarn zu denken. Deshalb muss die Erzählung früher ansetzen als beim Fall der Mauer, auch weil sich mit diesem historischen Tag der Fokus der Akteure - freiwillig oder unfreiwillig - mehr und mehr in Richtung der deutschen Einheit verlagerte. Zuvor ging es um eine Veränderung der DDR. Wie gesagt, es gab in ihr staatliches Unrecht.

Trotzdem lehne ich den Begriff des Unrechtsstaates für die DDR ab, weil der frühere Generalstaatsanwalt von Hessen Fritz Bauer diesen Begriff zu Recht für die Nazidiktatur prägte.

Die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die Demonstrierenden wollten zumindest bis zum Fall der Mauer die DDR grundsätzlich reformieren, was möglich erschien.

In einem Unrechtsstaat wie Nazideutschland war dies ausgeschlossen. Er konnte und musste abgeschafft werden.

Wegen der Reichspogromnacht gedenken wir morgen auch der durch die Nazis ermordeten Jüdinnen und Juden.

Den Mauerfall und auch die deutsche Einheit hätte es ohne die Gründung etwa des Neuen Forums, von „Demokratie jetzt!“ und des Demokratischen Aufbruchs,  ohne die Demonstrationen, die in Plauen und Leipzig ihren Anfang und den Menschen die Angst nahmen und schließlich bei der Demonstration am 4. November 1989 in Berlin ihren Höhepunkt fanden, nicht gegeben.

Ich muss es ganz klar sagen: Die Demonstrierenden in vielen Städten haben erfolgreich für Freiheit und Demokratie in der DDR gekämpft und die Mauer zu Fall gebracht. Nicht Helmut Kohl und seine Bundesregierung brachten das zustande; es war die Leistung der Ostdeutschen.

Die Bereitschaft der Menschen vor 30 Jahren, bis dahin Unerhörtes einfach zu tun, mit Massendemonstrationen, neuen Parteien und Organisationen das Machtsystem der SED infrage zu stellen, ohne es gewaltsam beseitigen zu wollen, folgte einem urdemokratischen Impuls, der auch den heutigen Verhältnissen durchaus guttäte.

Die Runden Tische zum Beispiel waren ein demokratisches Instrument, dessen wir uns aktiv erinnern sollten bei der Lösung aktueller Probleme.

Die Friedlichkeit hatte zwei Seiten: keine Gewalt durch Demonstrantinnen und Demonstranten und der Verzicht darauf bei den Soldaten, bei der Polizei nicht gleich, aber später auch. Egon Krenz hatte wohl am Abend des 8. Oktober angeordnet, keine Gewalt mehr durch die Polizei anzuwenden. Es bleibt eine beachtliche Leistung, dass während des gesamten Umbruchs kein einziger Schuss fiel, weder durch sowjetische Streitkräfte in der DDR noch durch die Angehörigen der sogenannten bewaffneten Organe der DDR, auch und gerade nicht am Abend des Mauerfalls, als an der Grenze keiner so richtig Bescheid wusste und sich Diensthabende entschieden, die Grenze zu öffnen. Beides ist zu würdigen.

Nicht Schwarz-Weiß, sondern das große Dazwischen bestimmt den Lauf der Geschichte.

Die AfD - ich komme ja jetzt zu Ihnen - plakatiert die Wende 2.0 und will angeblich die Wende vollenden. Meine wenigen Damen und vielen Herren von der AfD hier, mit der Wende, mit dem Umbruch, mit der Friedlichen Revolution hatten und haben Sie nicht das Geringste zu tun.

Die Mehrheit der Ostdeutschen - hören Sie zu! - wollte die Mauer zum Einsturz bringen, nicht wie Sie die Errichtung neuer Mauern.

Die Mehrheit wollte ein vereinigtes Europa in Frieden, das Sie zerstören wollen. Die Demonstrierenden wollten Freizügigkeit und Toleranz und nicht wie Sie Hass, nationalen Egoismus, Rassismus und Antisemitismus verbreiten.

Abschottung und Ausgrenzung sind das Gegenteil von dem, wofür die Menschen vor 30 Jahren demonstrierten.

Gerade weil heute an den Grenzen Europas wieder Menschen sterben, die nach Freiheit, Demokratie, einem Leben in Sicherheit und mit einer wirtschaftlichen Perspektive streben, sollten wir uns daran erinnern, dass man mit Mauern und nationalem Egoismus regelmäßig Probleme nur verschärft und nicht löst.

Außerdem sind Sie von der AfD feige; denn Sie bekämpfen die Schwächsten in der Gesellschaft: die Flüchtlinge. Da lobe ich mir die Linken, die den Mumm haben, sich mit den Stärksten anzulegen.

Ich weiß, was die spätere Einheit Menschen in Ostdeutschland zusätzlich gebracht hat, zum Beispiel die Sanierung von Städten und Wohnungen, aber ich kenne auch die Fehler, die begangen wurden. Die Einheit hätte - so wie es Gorbatschow vorschlug - unter anderem genutzt werden können, um weder Osteuropa noch Westeuropa zu bleiben. Man hätte neutral und zu dem wesentlichsten Vermittler weltweit bei Konflikten werden können - egal ob es um den Konflikt Israel/Palästina, Russland/Ukraine oder um andere geht. Eine solche Rolle kann man übrigens auch heute trotz der NATO-Mitgliedschaft anstreben. Sie scheint mir den Wünschen der Demonstrierenden vom Herbst 1989 und dem Grundcharakter des Mauerfalls zu entsprechen. Diese Rolle wäre also vielen - auch mir - schon aus historischen Gründen, wenn ich an die Nazidiktatur und den Zweiten Weltkrieg denke, sehr sinnvoll erschienen.

Stattdessen hat sich die Mehrheit im Bundestag entschieden, nicht nur in der NATO zu bleiben, sondern die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr auch mit allen Konsequenzen weltweit zu entsenden.

Außerdem wäre es vernünftig gewesen, bestimmte Momente aus der DDR wie die höhere Gleichstellung der Geschlechter, die Polikliniken, die Berufsausbildung mit Abitur für das vereinigte Deutschland zu übernehmen, statt die Strukturen im Osten völlig zu negieren und zum Teil sogar herabzuwürdigen. Das hätte das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt und den Westdeutschen ermöglicht, dank des Ostens eine Steigerung ihrer Lebensqualität zu erfahren.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Herr Kollege Gysi.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):

Ich bin sofort fertig, Herr Präsident.

Auf andere Schwächen und Stärken der Einheit werde ich wegen der Begrenzung der Redezeit erst im nächsten Jahr eingehen. - Übrigens: Am 9. November 1918 begann mit der Ausrufung der Republik die Demokratiegeschichte in Deutschland; auch daran sollten wir denken.

Der Fall der Mauer aber sollte uns alle mahnen, Probleme wirklich zu lösen und nicht zu versuchen, sie mit Mauern durch Einigelung vorübergehend unsichtbar zu machen.